2. September 2020

Schutz von Frauen und Kindern vor Gewalt während Corona

Silvia Brünnel (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Sehr geehrter Herr Präsident, liebe Kolleginnen und Kollegen!
Die Corona-Pandemie wirkt wie ein Brennglas für gesellschaftliche
Missstände und stellt uns vor große Herausforderungen.
Gut, dass wir bereits vor der Sommerpause
den Weg geebnet haben, um in dieser Krisensituation finanzielle
Hilfen schnell und verlässlich bereitstellen zu
können.
3 Millionen € stehen nun Frauenhäusern, Beratungs- und
Interventionsstellen zusätzlich zur Verfügung, um Mehrkosten
abfedern und zukünftigen Herausforderungen gut
begegnen zu können. Liebe Kolleginnen und Kollegen, das
nenne ich Handlungsfähigkeit in Zeiten, in denen uns die
Corona-Pandemie fast täglich vor neue Aufgaben und Entscheidungen
stellt.
(Beifall BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und CDU)
Wer sich in den letzten Monaten mit dem Thema Gewaltschutz
auseinandergesetzt hat und mit den Verantwortlichen,
den Verbänden und den Einrichtungen vor Ort im
Dialog war, weiß, dass diese Mittel zeitnah benötigt werden.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, unsere Frauenhäuser, Interventions-
und Beratungsstellen leisten eine unverzichtbare
Arbeit. Sie haben seit Beginn der COVID-Pandemie
ihre Beratungsangebote an die pandemische Situation angepasst
und vorbildlich dafür gesorgt, dass Frauen und
Kinder weiterhin vor Gewalt und Bedrohungen geschützt
werden können. Sie brauchen nun Gelder für zusätzliches
Personal, für Miete, für Büroausstattung, oder auch um
neuen Kommunikationswegen gerecht zu werden, aber
auch um Absagen von Schulungen und Workshops zu
kompensieren. 3 Millionen € aus dem Sondervermögen
„Hessens gute Zukunft sichern“ sollen nun dabei unterstützten.

(Beifall BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und CDU)
Liebe Frau Kollegin Gnadl, ich muss Sie jetzt einmal persönlich
ansprechen. Ich kann es mir an dieser Stelle nicht
verkneifen, auf die – so sagen wir es einmal – recht unterschiedlichen
Pressemitteilungen von Ihnen einzugehen.
Im Mai fordert die SPD 1,5 Millionen € Soforthilfe für
Frauenhäuser und Beratungsstellen während der Corona-
Pandemie. Ich denke, eigentlich wäre es jetzt an der Zeit,
sich mit uns gemeinsam über die Verdopplung der von Ihnen
gewünschten Forderung zu freuen. Aber zu meinem
Erstaunen ist das nicht der Fall. Auf Ihrer Seite konnte ich
lesen, dass Sie jetzt 3 Millionen € für Gewaltschutz von
Frauen und Kindern als viel zu wenig erachten.
(Heiterkeit BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Das mag einer verstehen, wie er will. Ich verstehe das
nicht.
(Beifall BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und CDU –
Zurufe SPD)
Liebe Frau Gnadl, ich weiß nicht, wie Ihre Berechnungen
für den Antrag vom 20. Mai zum Gewaltschutz waren;
aber damals hatten wir auch schon 31 Frauenhäuser, wir
hatten die gleiche Anzahl an Beratungsstellen. Ich hoffe
doch, dass Sie auch damals schon den Schutz vor sexualisierter
Gewalt an Kindern und Jugendlichen mitbedacht
haben.
(Zuruf SPD: Das haben wir doch immer! – Marius
Weiß (SPD): Unverschämtheit! Das ist eine Frechheit!)
Fazit ist: Selbst die doppelte Fördersumme ist der SPD
nicht genug. Das mag verstehen, wer will. Ich finde, diese
Kritik ist an der Stelle wirklich nicht glaubwürdig.
(Beifall BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und CDU –
Marius Weiß (SPD): Das ist unglaublich!)
Liebe Kolleginnen und Kollegen, viele Menschen in unserem
Land standen in den letzten Wochen vor kaum zu bewältigenden
Herausforderungen: die mögliche Sorge um
den Verlust des Arbeitsplatzes und damit verbundene existenzielle
Ängste, häusliche Isolation, Social Distancing,
Homeoffice, geschlossene Kinderspielplätze. Die COVID-
19-Pandemie hat weltweit gewohnte Lebensmuster
auf den Kopf gestellt und zu großen Unsicherheiten in der
Bevölkerung geführt. Diese Erfahrung zeigt, dass es durch
diese Unsicherheiten zu einer Zunahme der häuslichen Gewalt
kommen kann. Das Gewaltrisiko von Frauen und Kindern
steigt, nicht zuletzt auch wegen der fehlenden Kontrollmechanismen.
Misshandlungen bleiben möglicherweise
unentdeckt, wenn Schulen geschlossen sind und keinen
Präsenzunterricht durchführen können oder Kitas nur im
eingeschränkten Betrieb sind.
Auch wenn die Zahl derer, die bundesweit in den ersten
Wochen und Monaten Hilfe bei Frauenhäusern gesucht haben,
nicht so anstieg, wie wir zunächst befürchtet hatten,
gab es doch einen deutlichen Anstieg beim Bundeshilfetelefon
im ersten Quartal, nämlich um 20 %. Derzeit müssen
wir davon ausgehen, dass viele Frauen aufgrund der Sorge
vor Ansteckung bislang noch keine Schutzeinrichtung aufgesucht
haben oder schlichtweg von ihrem Partner oder ihrem
Ehemann daran gehindert wurden, dies zu tun. Deshalb
ist die Befürchtung vorhanden, dass es durchaus noch
zu einem späteren Zeitpunkt zu einem Anstieg kommen
kann. Nicht zuletzt deswegen ist die Landesregierung seit
dem Beginn der Corona-Krise im Austausch mit den Frauenhäusern,
den Kommunen, den Landkreisen, um aktuelle
Bedarfe zu ermitteln und gemeinsam Lösungen zu erarbeiten.
Gleich zu Beginn der Pandemie – wir haben es alle mitbekommen
in den Kommunen, in den Gemeinden – stellte
sich die Frage, wie eine Neuaufnahme in einem Frauenhaus
stattfinden kann und gleichzeitig die hygienischen
Schutzmaßnahmen eingehalten werden können. Kassel
ging da mit gutem Beispiel voran und hat bereits zu einem
sehr frühen Zeitpunkt drei Wohnungen als Interimslösung
bereitgestellt. Viele andere Städte in Hessen haben das
auch getan, und sie haben so gemeinsam einen Weg beschritten,
der uns zeigt: Es ist eine gemeinsame Aufgabe
auf allen Ebenen, auf Bundesebene, auf Landesebene und
auf kommunaler Ebene, sich dieses wichtigen Themas anzunehmen.
(Beifall BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Das Land Hessen ist sich jedoch aufgrund der Nachfragen
bewusst, dass es einen Bedarf an Aus-, Umbau und Sanierung
von Frauenhäusern gibt. In den nächsten Jahren wird
deshalb das Bundesinvestitionsprogramm „Gemeinsam gegen
Gewalt an Frauen“ umgesetzt und vom Land Hessen in
den nächsten vier Jahren mit eigenen Mitteln ergänzt. Hessen
hat ein flächendeckend ausgebautes Netz an Beratungs-
und Interventionsstellen. Es ist auch in diesem Bereich
gut aufgestellt und wird da in den nächsten Jahren
noch hinein investieren.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, mit über 8 Millionen €
unterstützt das Land jährlich die Arbeit der Frauenhäuser,
Beratungs- und Interventionsstellen.
(Beifall BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Wer in der Corona-Krise mit den verantwortlichen Kommunen
kommuniziert hat, konnte feststellen, dass sich die
Landesregierung mit allen Akteuren aktiv im Gespräch befindet
und sich mit ihnen gemeinsam um die Umsetzung
des Gewaltschutzes von Frauen und Kindern kümmert.
Aber nicht nur in Zeiten der Corona-Krise beschäftigt uns
das Thema Gewalt an Frauen und Kindern. Jede dritte Frau
erfährt mindestens einmal in ihrem Leben physische oder
sexuelle Gewalt. Frauen werden nicht nur in sozialen
Brennpunkten Opfer von häuslicher Gewalt. Nein, Partnerschaftsgewalt
tritt in allen sozialen Schichten, in jeder Bildungsschicht
und auch in jedem Alter auf. Kinder sind dabei
häufig mit betroffen, entweder als Zeugen oder als direkt
Betroffene.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, Prävention bleibt das
elementare Mittel zur Verhinderung von Gewalt gegen
Frauen und Kinder. Um gesellschaftliche Veränderungen
herbeizuführen, braucht es eine kritische Auseinandersetzung
mit geschlechtsspezifischen Rollenbildern. Gewalt
basiert häufig auf tradierten Rollenzuweisungen. Deswegen
müssen wir auch stereotype und repressive Vorstellungen
der männlichen Geschlechtsrolle hinterfragen. Gewaltfreie
Konfliktlösungen sind erlernbar.
(Beifall BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und Ines
Claus (CDU))
Präventionsmaßnahmen – wir hatten das schon bei dem
Thema Femizide – müssen bereits in der frühkindlichen
Bildung beginnen. Ich habe da auch schon das Beispiel genannt
und das Superprojekt „MamMut“ hervorgehoben,
das hier in Wiesbaden verortet ist. Es handelt sich bei dem
Projekt um eine Präventionsarbeit, die bereits an den
Grundschulen stattfindet. Genau da müssen wir auch ansetzen,
und zwar schon direkt bei der frühkindlichen Bildung.
Es gibt viele Präventionsprogramme: das Präventionsprogramm
PiT, Programme über das Landesprogramm WIR.
Es gibt Fortbildungsprogramme – das ist auch ganz wichtig:
Fortbildung für soziale Fachkräfte, die Kindeswohlgefährdung
und Kindesmisshandlung im Fokus haben. Es
gibt Fortbildung für die Ärzteschaft und andere medizinische
Berufe, und es gibt Fortbildung für Täter und Männerberatungsstellen.
In den vergangenen Haushaltsjahren wurden erhebliche
Anstrengungen unternommen, um den Schutz für Kinder
und Jugendliche auszubauen – sei es mit der Aufstockung
der Mittel von insgesamt 1,1 Millionen € in den letzten
beiden Haushaltsjahren für die kommunalen Beratungsstellen
oder durch die vielen Präventionsmaßnahmen in
Schulen und Jugendeinrichtungen. Zusätzlich werden in
Hessen nach nordischem Vorbild bereits in diesem und im
nächsten Jahr 400.000 € für ein Childhood-Haus und
800.000 € für die Unterstützung der Kinderschutzambulanz
in Frankfurt bereitgestellt.
Ich weiß nicht, wer sich bereits inhaltlich mit dem Konzept
eines Childhood-Hauses auseinandergesetzt hat. Das ist
das Konzept des skandinavischen Barnahus, also wörtlich
Kinderhaus, das ein doppeltes Ziel verfolgt. Das Konzept
verfolgt einmal den therapeutischen und medizinischen
Ansatz, d. h., es möchte eine Therapie und eine medizinische
Behandlung für das misshandelte Kind anbieten, aber
gleichsam auch der Strafverfolgung dienen. Beweissicherung
und Versorgung gehen Hand in Hand. Das ist also eine
kindergerechte Justiz, eine Lösung zwischen Strafverfolgung
und Kinderschutz. Das gilt es in diesem Bereich
insgesamt anzustreben, wenn wir über Gewaltschutz für
Frauen und Kinder sprechen.
Die Vernetzung aller Akteure – dieses Prinzip ist auch bei
der Arbeitsgruppe „Gewalt im häuslichen Bereich“ im
Landespräventionsrat hinterlegt. Der Schutz vor Gewalt an
Frauen und Kindern muss interdisziplinär und ressortübergreifend
gedacht werden. Der Länderpräventionsrat, die
Landeskoordinierungsstelle gegen häusliche Gewalt, die
Akteure auf Landesebene, auf kommunaler Ebene, die Arbeitsgruppe
zum Kinderschutz „Hessen-gegen-Ehrgewalt“,
Justiz, Polizei und Beratungsstellen – alle sind Partner im
Kampf gegen häusliche Gewalt.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, Gewaltschutz und Präventionsförderung
zählen zu den wichtigsten staatlichen
Aufgaben – und in Zeiten wie der Corona-Pandemie mehr
denn je. Jede häusliche Gewalt, jeder sexuelle Missbrauch,
jede Vergewaltigung ist eine Tat, die es zu verhindern gilt,
bevor sie passiert. Mit 3 Millionen € zusätzlich sollen nun
Frauenhäuser, Beratungs- und Interventionsstellen unterstützt
werden; denn sie leisten für uns eine unverzichtbare
Arbeit.
(Beifall BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und CDU)